Canis lupus

Aus den unvollständigen Aufzeichnungen Albert Grunzels

Donnerstag, der 21. September. – Es soll wieder Wölfe geben, sagen sie. Kürzlich seien mehrere Exemplare in der griesen Gegend gesichtet worden; hungrig hätten sie ausgesehen. Gedankenleer treiben sie sich vermutlich umher, umschleichen ihre zaghaft sich andeutende und doch gleichsam so ungewisse Zukunft in den wiederbesiedelten Forstgebieten, die sich jenseits der Stadtmauern finden. Die Bewohner derweil zeigen sich von jenem Treiben zunehmend beunruhigt, weshalb man heute zu einer Bürgerversammlung in den Rathskeller lud. Geheimrat Gernot Gnumpelbein – wie schon einst sein Urgroßvater Vorsteher der ehrwürdigen Schützengilde – meinte ein probates Mittel gegen das vermeintliche Wolfsproblem zu wissen: Ausmerzen! Totschießen! Woraufhin eine Schwachsinnige, die sonst stadtbekannt dafür ist, selten ein Wort mit jemandem zu wechseln und die, wie man sich erzählt, unzählige Tiere in ihrer Hütte hortet, in die Mitte der Versammelten schritt und verlangte, man möge ihr nur das Wolfsfell aushändigen, so man denn das Biest zur Strecke brächte. Während der restlichen Zusammenkunft schwieg sie, und verließ danach noch vor allen anderen den Rathskeller.

Erntedank, der 8. Oktober. – [Aufzeichnungen fehlen.]

Dienstag, der 10. Oktober. – Ungeachtet der allgemeinen Aufregungen bin ich gezwungen, meinen Geschäften nachzukommen. Bei dem heute unternommenen Versuch, aus diesem Grund ein Telegramm im Kaiserlichen Postamt aufzugeben, geriet ich mit einer Grobschlachtigen – man mag kaum das Wort Dame in den Mund nehmen –, die mich so anstarrte, als trüge ich einen Eselskopf auf den Schultern, einigermaßen aneinander. Die Essenz ihres verkürzten Seins konzentrierte sich in dem Zerrbild, zu welchem ihr Gesicht just für die unerträgliche Dauer dieser einen Sekunde avancierte. Ich kann mich des Gefühls nicht länger erwehren, dass die Stadt in Anbetracht einer unmerklichen Bedrohung allmählich toll wird; zusehends scheint sich eine unsichtbare Schlinge eifrig immer enger zu ziehen. Ein eisiger Wind fegt derweil über die Stadt hinweg.

Dienstag, der 17. Oktober. – [Aufzeichnungen fehlen.]

Montag, der 23. Oktober. – Es lässt sich augenscheinlich nicht mehr leugnen, dass uns ein harter Winter bevorsteht, wie wir ihn seit langem nicht hatten. Durch die schlechte Ernte und den verfrühten Kälteeinbruch stellt sich die ganze Stadt auf entbehrungsreiche Wintermonate ein. Die Zunftgesellen durchstreifen inzwischen immer häufiger die nächtlichen Wälder nach dem erdachten Biest, das aus mir unerfindlichen Gründen größeren Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten scheint als drohender Hunger.

Freitag, der 3. November. – In den Wäldern, die die Stadt umschließen, dröhnt und kracht es nun des Nachts beinah unentwegt. Ich gehe nicht mehr aus dem Haus, denn ich fürchte die menschlichen Jäger mehr als die gejagte und als Bestie verfemte Beute. Eines der Tiere, eine Wölfin, zogen sie bereits tot aus dem frühwinterlichen Wald, doch wenigstens ein weiteres, männliches, Exemplar wird dort noch vermutet und ist nun der unerbittlichen Hetzjagd dieser nach Wolfsblut dürstenden Zünftler ausgesetzt, die selbst wie Tiere sind. In der Stadt und vor den Toren erlahmen unterdessen alle Geschäfte, da sich niemand mehr aus dem Haus wagt. Ferner erlagen zwei von Krankheit Entkräftete unlängst dem Hungertod.

Totensonntag, der 26. November. – Die ganze Stadt verharrt wie in Angststarre, und es will mir einfach nicht in den Kopf, an welchem Punkt sich ihre Bewohner sämtlichst zu dummen Lämmern gewandelt haben mögen, denn scheinbar fürchtet jeder hier, gefressen, doch niemand, versehentlich im Schrothagel niedergestreckt zu werden. Und das, obwohl Geheimrat Gnumpelbein und seinen Gefolgsmännern die Schlüsselgewalt über die Stadt übertragen und das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Die Herren Stadträte indes kauern, wie alle, in irgendeiner Ecke ihres verschlossenen und verrammelten Hauses und warten darauf, dass die achtbaren Zunftkameraden siegreich von ihrem Beutezug heimkehren. Angefacht durch die um sich greifende Hungersnot breitet sich unterdessen eine rätselhafte Krankheit unter den Städtern aus; alle reden nur von der Wolfskrankheit, obgleich mir scheint, dass es sich um ein gewöhnliches Typhusfieber handelt… Dessen ungeachtet beschlagnahmte eine von der Gilde berufene Miliz in den letzten Tagen wiederholt Essensvorräte, welche den tapferen Zunftkameraden vorbehalten sein sollen, während Kranke und Tote zunehmen. Auch ich bin merklich entkräftet und sehe mich daher gezwungen, meine Aufzeichnungen für einige Zeit ruhen zu lassen.

Ein Spaziergang im Jahre 19―

Graf Quilpus von Queuch und Dr. der Medizin Konrad Immanuel Grunzel hatten auf ihren allwöchentlich-sonntäglichen Spaziergängen durch die mittelbare Umgebung ihres Wohnsitzes im Stadtkern zu W—— im Allgemeinen nur wenig Mitteilenswertes untereinander auszutauschen. Zumeist begnügte man sich beiderseits damit, sich in Bemerkungen über das angenehme Wetter und die wohltuende Luft zu ergehen; darüber dass ein Spaziergang am frühen Vormittag die Sinne belebe und dass man sich wohl keine wünschenswertere da schweigsamere Begleitung vorstellen könne als den jeweils anderen. So auch an diesem Sonntagmorgen: Das Wetter war angenehm, die Luftverhältnisse den Bedürfnissen der beiden Herrschaften angemessen, und die Sinne sowie das Gespräch waren durchaus nicht allzu übermäßig angeregt. Graf von Queuch hob seinerseits zu einer kleinen Erzählung an; eine Begebenheit, deren Zeuge er selbst nicht gewesen war, welche ihm jedoch ein Beteiligter Dritter einige Jahre zuvor zugetragen hatte, wie er dem geneigten Doktor versicherte.

Dies aber begab sich im Jahr des Herrn 1894, jenem Jahr also, in welchem die Stadt erstmalig mit der Kaiserbahnlinie verbunden ward und in dem auch eine kleine Gruppe fahrender Gesellen für einige Tage ihre Zelte unweit des Stadtrandes aufgeschlagen hatte. Es war im August. Zumindest, schob Graf von Queuch ein, erinnere er selbst sogar sich dunkel jener Wandersleute, und des Umstandes, dass es im August gewesen sein musste, zumindest aber im Sommer. Nun ja, die Temperaturen in jenen Tagen, als besagte Gesellen in der Stadt gastierten, seien ihm jedenfalls noch einigermaßen sommerlich vorgekommen; das Erntedankfest hatte man wohl noch nicht begangen, wenn er sich recht besann. Es mag aber durchaus auch bereits Spätsommer gewesen sein, September oder Oktober; ein äußerst heißer Oktober womöglich. Und doch sei er sich nahezu sicher, dass es August gewesen sein musste: Es war also im August…

Nochmals aus den Aufzeichnungen Albert Grunzels

Donnerstag, der 7. Dezember. – Der Stadt sterben ihre Bürger unter den Händen weg wie die Fliegen. Eine weitere niedergestreckte Bestie konnten die Zünftler bisher jedoch nicht vorweisen. Die Bewohner verspeisen derweil die Ratten aus ihren Kellern (und was sich sonst dort unten noch an Geschmeiß herumtreibt, das sie in aller Regel sofort zur Straße hinausjagen würden). Ein ekelerregender Geschmack wie von Fingernägeln auf alter, harter Brotrinde…

Zweiter Advent. – Dies ist wohl meine letzte Notiz, und wie es so langsam mit mir zu Ende geht, erinnere ich eine Geschichte, die mein Großvater mir als Bursche erzählte. Sie handelt davon, wie im Jahr 1894 der letzte Wolf aus W—— verschwand; in jenem Sommer hatte ein fahrendes Völkchen in der Stadt Halt gemacht. Einer der Schausteller war jedoch wenig später nicht, wie seine Begleiter, weiter in den nächsten Ort gezogen, denn er fand hier unter ausnehmend rätselhaften Umständen den Tod. Groß-Onkel Konrad, seinerzeit ein angesehener Arzt, hatte Großvater wiederum davon berichtet, wie eines Nachts im besagten August ein grauenhaftes Jaulen und ein Aufschreien zu vernehmen gewesen waren. Die Grafenfamilie, die seinerzeit noch das Gut verwaltete und bewirtschaften ließ, habe noch in derselben Nacht nach einem Bedien-steten geschickt, welcher nach dem Rechten hatte sehen sollen; am folgenden Morgen habe dieser, bleich und wie versteinert, auf der Treppe zum Gutshaus seinen Herrn mit den Worten empfangen, »Guter Herr, es ist so furchtbar, so furchtbar«, und fortan nichts mehr anderes gesagt. Es stellte sich heraus, dass ein Wolf einen der Schausteller scheinbar in das sumpfige Gebiet der Flussniederung getrieben hatte, wo er umkam. Jedoch, als causa mortis taugte der vermeintliche Wolfsangriff im Grunde nicht, denn nach eingehender Untersuchung hätte man lediglich eine wenig bedrohliche Schürfung an der Wade des armen Gesellen ausmachen können, wie von einem mittelgroßen bekrallten Tier, einem Fuchs etwa. Dessen ungeachtet trachtete man auch damals schon der Kreatur nach dem Leben, und so kam es, dass Heinrich Fürchtegott Gnumpelbein den letzten Wolf zur Strecke brachte, welchen man bis auf den heutigen Tag in W—— gesehen hatte. In den Jahren darauf kam es zu verheerenden Missernten und es folgte der Große Hunger von 1896. Warum all das, gerade jetzt in der Stunde meines Todes, mir in den Sinn kommt? Ich weiß es nicht. Aber etwas wird es wohl zu bedeuten haben.

2015

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