[at]home_stories: Sehreisen auf 68m²

Einen ›Lieblingsort‹ – das bevorzugte Café, ein besonderer Straßenzug in der eigenen Stadt, ein Ort in der Ferne, ein Urlaubsziel – oder einfach einen speziellen Flecken Erde, der sonst vielleicht eher im Ungesehenen verbleibt, könnte vermutlich jede und jeder benennen. Einen Ort, der etwas in ihr oder ihm auslöst, sich durch die ganz eigene Wahrnehmung vielleicht nur eines winzigen Details, das anderen Beobachtenden verborgen bleibt, hervortut. Wenn man neue, unbekannte Orte bereist, werden Dinge zum ersten Mal gesehen – selbst dann, wenn sie bereits millionenfach auf Postkartenformat abgedruckt zirkulieren oder von praktisch überall auf der Welt per Google-Bildersuche zur Verfügung stehen.

Wo also sind die ungesehenen Bilder, die unverbrauchten Perspektiven? Etwa während eines Paris-Urlaubs: Hier könnte man z. B. bei einer Besichtigung des Eiffelturms zufällig auf eines der über zwei Millionen Niete aufmerksam werden, welche die Konstruktion zusammenhalten. Aufgrund seines ungewöhnlichen Rostansatzes fiele dieses eine bestimmte Niet ansonsten wahrscheinlich nur der Restauratorin oder dem Restaurator auf; jemand ohne diesen geschulten (aber eben auch hoch spezialisierten) Blick erkennt hierin vielleicht eine Analogie: jeder Arbeiter in seiner ihm zugewiesenen Funktion, jedes Niet an seinem vorbestimmten Platz – so errichtete man ab 1887 den Metallgiganten, der in der Breitenrezeption heute längst nicht mehr als aus Einzelteilen zusammengefügt wahrgenommen wird, sondern vielmehr in seiner Ganzheit für sich selbst steht. Also macht man – ein Foto.

Ich strebe nicht in die Ferne. Ich bleibe zuhaus. Und suche hier nach Analogien, nach dem, was tagtäglich sich mir geradezu aufdrängt und meist doch unbeachtet bleibt. Bewaffnet nur mit einer handelsüblichen Digitalkamera – wie sie eben bei einer gewöhnlichen touristischen Unternehmung zum Einsatz käme – begebe ich mich also auf Streifzug, lege mich auf die Lauer, untersuche dies und das und werde somit zum Besucher in meinen eigenen vier Wänden.

Eine winkende Ikone des Banalen

Ihre Augen starrten ihn unverwandt an. Der Blick, der ihn traf, war der Blick eines Buddhas oder sonst einer Inkarnation, und er sprang zwischen Unerbittlichkeit, Wissen, unendlicher Milde und Spott hin und her. »Das ist so eine Glückskatze wie bei meinem Chinesen, nicht wahr? Nur daß der Arm nicht wackelt.« (Christoph Peters: Sven Hofestedt sucht Geld für Erleuchtung. München 2010, S. 200)

Als billigstmöglich produzierte Plastikvariante ihrer selbst fristet sie ihr kümmerliches Dasein auf meinem Fensterbrett, Südwestseite: Maneki-neko, die winkende Katze. Im asiatischen Raum galt und gilt sie als Symbol für Wohlstand und Glück; sie winkt Kundschaft herbei oder warnt mit erhobener Pfote vor drohendem Unheil. Hier, in meinem Wohnzimmer, winkt sie ohne Sinn und Verstand, winkt sich selbst hinweg von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang – eine eingebaute Mini-Solarzelle macht es möglich.

Einst als wertvolle Keramiken von Hand gefertigt, zum Teil mit echtem Blattgold überzogen und als Kunst- und Wertgegenstände gehandelt, werden heute deren seelen- und anspruchslose Klone in Serie produziert und insbesondere auf den westlichen Ramschmarkt geschleudert. Ich habe es also zu tun mit der Banalisierung des Ikonenhaften an sich, geschuldet der billigen Reproduzierbarkeit und Verfügbarkeit. Auch in meinem Wohnzimmer. Wie alle guten Massen- und Pauschaltouristinnen und -touristen mache also auch ich mich der Trivialisierung und somit sukzessiven Verdrängung ursprünglicher Kultur schuldig bei dem Versuch, mir diese anzueignen – ohne hierbei überhaupt das Haus verlassen zu haben.

Wüstenszenen und Feuchtbiotop im Schuhkarton

Morgendämmerung. Das Dunkel der Nacht weicht, zaghaft zunächst. Eine verschleierte Frau ist gerade im Begriff, sich auf den Weg zur Wasserstelle zu machen, als mit urgewaltiger Plötzlichkeit ein Wüstensturm heranzieht, der das keimende Tageslicht und die Luft zum Atmen zu verschlingen droht. Innerhalb weniger Minuten ist die Umgebung in eine trocken-staubige, lebensfeindliche Atmosphäre transformiert und die Siedlung liegt erneut in finsterer Nacht, abgeschnitten vom so dringend benötigten Wasser.

Andernorts präsentiert sich ein Naturreservat, ein unangerührtes Idyll, als Refugium auf Weiß. Zwei verschwommene Grafiken – hervorgegangen aus dem Ausgangsmaterial eines Schuhkartons der Marke ›Elefanten‹, versehen dem Schriftzug Steuern, einer Ablage für steuerrelevante Quittungsbons und Rechnungen also – formen eine irritierende Szene, die Fragen aufwirft: Behutsam schiebt sich, gleitet, die Zunge einer jenseits des Bildrandes lauernden Kröte (vormals ein roter Elefantenrüssel) ins Zentrum des Geschehens. Doch wo ist das Insekt – ein Wasserläufer, eine Libelle womöglich –, nach dem bei nächster Gelegenheit geschnappt werden soll? Verbirgt es sich möglicherweise in der diffus-verträumt aus den schnöden Steuern erblühenden Seerose? Ist sie selbst gar Ziel des amphibischen Begehrs? Und wie verhalten die beiden – bisher völlig unbeteiligten – Segler sich zu diesem Konflikt?

Von der Allgegenwärtigkeit des Staubes

Wirbel, überkreuz gedreht, als ob einzelne Flocken stehen blieben, sich bündelnd in Zopfform, sichtbar nur vor Dunklem, ihrem eigenen Schatten. (Helmut Hartwig: Schnee Schnee. Nachruf auf eine Jahreszeit die entschwindet. Berlin 2016, S. 7)

Jeder Morgen folgt einem bestimmten Ablauf. Hierzu gehört nach meinem Dafürhalten – und dem der Wohnungsverwaltung – auch sorgfältiges Querlüften bei vollständig geöffneten Fenstern und Türen, um Feuchtschäden und Schimmelbildung vorzubeugen. Wer es mit solch unerfreulicher Fensterverzierung schon einmal zu tun hatte, dem und der ist sicher auch der Satz »Dann haben Sie wohl falsch gelüftet« bekannt. – Das kann mir nicht passieren, denn ich bin ein äußerst vorbildlicher Querlüfter mit täglicher Routine und nicht verhandelbarer Pedanterie.

Während des genannten Vorgangs ist nun, ebenfalls auf täglicher Basis, ein ganz besonderes Phänomen zu beobachten, nämlich die Akkumulation und Inbewegungsetzung von Staubteilchen, die sonst unerkannt und ungesehen unter Schränken, Bettgestellen, in Nischen oder – besonders gern – in der Nähe offener Treppen verweilen. Jetzt in Fluss versetzt durch die Zugluft, die von allen Seiten hereinströmt, kommen sie in wellenartig-sanften Wanderbewegungen aus ihren Verstecken hervor, treffen in Verwirbelungsgesten aufeinander, bündeln sich und ziehen fort, nehmen lautlos, bedächtig die Weite der Wohnung für sich ein, bleiben dabei jedoch stetig-statisch am Boden verhaftet. Hier finden sie sich im Anschluss an den Lüftungsvorgang als jene Gebilde wieder, welche der Volksmund landläufig als Wollmäuse bezeichnet. An welcher Stelle diese letztlich zum Stillstand kommen, scheint purer Zufall.

So kommt es auch zu der oben abgebildeten Szene: Ein tags zuvor – ohne Not und Hintergedanken, nur in kindlicher Unbekümmertheit – abgestelltes Spielzeug wird qua unangefragter Wanderbewegung der Partikelgebilde dazu eingeladen, als tatsächliches Arbeitsgerät in Aktion zu treten; der Einsatzort hat sich unbemerkt zu ihm begeben, der Staub formuliert die Aufforderung zur Werdung dessen, was das Spielgerät repräsentiert – ganz zufällig und ›im Vorbeiwehen‹.

2016

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