Nach fünfeinhalb Gläsern Wein folgte auf einen ausgedehnten und geistreichen Abend mit Camus und Sartre eine kurze und verstörende Nacht; Sartre hatte sich in meine nächtliche Traumarchitektur hineingestohlen und untergemengt. Er hob mich zunächst auf – wie man etwa ein Paar triefender Gummistiefel aufhebt, jeweils mittig des Schaftes, zusammengeklammert zwischen Daumen, Mittel- und Zeigefinger – und stellte mich in die Nähe einer Schlehenbirke. (Was ist eine Schlehenbirke?) »Dieser Baum trägt keine Furcht«, flüsterte Sartre, mir ab- und dem Gehölz zugewandt, »er trägt lediglich ursächlichen Schatten.« Ich hörte mich das Gesagte wiederholen, wie mechanisch, wie eigentlich nicht da. Und plötzlich war es nicht mehr Sartre, der mir soufflierte, sondern ein finster dreinblickender SS-Offizier, der mich vor den Gefahren des Bolschewismus zu warnen suchte. Er sagte, sein Name sei Ričardas Gavelis (was nicht stimmen kann, denn ich kenne ihn; er ist unlängst verstorben) und berichtete mir von kommunistischen Wieselbibern, die den Aufrechten das Rückenmark ausschabten; auch Camus’ hätte man sich auf diese Weise entledigt (der Autounfall sei getürkt gewesen). Der SS-Mann war nun auch verschwunden, oder nur unsehbar, sein Falsett hallte aber noch nach. Die Worte prasselten auf mich herunter, schlugen auf mich ein wie Hagelkörner auf ein Dachfenster. »Wir sind doch nur die elende Schmiermaschine für das internationale Finanzkapital«, hörte ich ihn schließlich noch sagen, jetzt schon nicht mehr im Falsett des SS-Mannes, sondern im lakonischen Tonfall eines mittelmäßig geschulten MfS-Lakaien, müde grinsend konnte ich noch sein Gesicht vor mir erkennen. Dann endete der Traum. Es war kurz nach drei Uhr in der Früh, als ich erwachte, und draußen wogte der Wind das Geäst und die Kronen der Schlehenbirken.
2016