Rezension: Schnee Schnee – Nachruf auf eine Jahreszeit, die entschwindet

»Schnee bietet Unbestimmtheit an – und erleidet, bestimmt zu werden.« – Kunstpädagoge Helmut Hartwig, langjähriger Leiter des Instituts für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin und inzwischen emeritierter Professor, legt eine vielseitige und vor allem: eine vielschichtige Versenkung in die verschiedenen Aggregatzustände vom Werden und Vergehen, vom Glück und seiner Vergänglichkeit vor, alles gespiegelt am Phänomen des Schnees – des schönen weißen, sich ausbreitenden, auch aber des zerfurcht-matschfarbenen, sich entziehenden. »Schnee ist schön, wenn er liegen bleibt.« Der Schnee von gestern offenbart dem Heute jedoch auch das Darunterliegende, mitunter Hässliche, Tote.

Ein »jungfräuliches Leichentuch« – etwas (noch) Unschuldiges, Reinliches, das sich über die Landschaft legt. Gleichwohl bestimmt die Entjungferung, die Vergänglichkeit (des Reinen, Weißen, des Unbefleckten) das Wesen des Schnees, seine Formlosigkeit, Immaterialität, seinen vorübergehenden Charakter. Der Zweck eines Leichentuchs ist es, den beklemmenden Anblick abzuschirmen, jedoch nur für kurze Zeit; der weitere Zweck besteht nämlich eben im Freigeben des Darunterliegenden. So verdeckt Schnee nicht nur, sondern deckt ebenso auf, bringt etwas hervor: »…und jetzt / baut sich ein neues Glück auf / Es braucht den Schnee / um zu erscheinen« – In seiner Kindheit, die in winterlich-verschneiten Fotoaufnahmen wie in Watte verpackt und konserviert wirkt, träumte Helmut Hartwig vom Fliegen. Dieser Kindheitstraum, der sich in den Schwarzweiß-Fotografien gehalten hat, ist Antrieb und zugleich Sehnsuchtsort seiner Meditationen.

Helmut Hartwig
Schnee Schnee –
Nachruf auf eine Jahreszeit, die entschwindet
bei Schmitz, Berlin 2016
84 Seiten

Mehr Informationen unter:
http://www.bei-schmitz.de

Anhand kürzerer Essays sowie fünfzehn eigener Malereien – und mit Hilfe grafischer, medialer und literarischer Ausschnitte – bearbeitet, streift und bindet Hartwig verschiedengestaltige Fantasien zu einem entschwindenden Glück ein, hüllt sie ein in metaphorisches Schneetreiben, oder bringt sie aus diesem gerade hervor (»Schnee muss schwarz werden, um sich zu zeigen«): den Kindheitstraum vom Fliegen, die Einbildungs-kraft, die sich in der unberührten, unbenannten Formlosigkeit findet – und das Auf-lösen, das Durchsetztwerden derselben, wenn »der Schnee satt wird von unten, wenn er sich vollsaugt mit der Oberfläche der Straße«, wenn das Weiß nicht länger hält, was es immer nur für einen kurzen Augenblick versprechen kann, jenes Glück aus Kindertagen, das es – glaubt man den Fotoaufnahmen – scheinbar nur im Schnee jemals gegeben hat.

»Schnee bietet Unbestimmtheit an – und erleidet, bestimmt zu werden. Wo gesehen wird, was schon gesehen wurde, geht die Einbildungskraft (der Schnee) an der Eindeutigkeit zugrunde und hinterlässt einen Friedhof mit Gedenksteinen und überfälligen Namen.« – Ein kunstvoll und stimmig arrangierter Band, der nachdenklich und dann wieder schwelgerisch stimmt, dabei den Schnee Schnee sein und ihn als solchen auch wirken lässt.

2016

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